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Gedicht darüber, wie ich mir eine bessere Welt vorstelle

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor. Es gibt weniger Wolken, weniger Wind, weniger Menschen, weniger Autos. Die ganze Welt ist kleiner und dünner besiedelt. Man hat immer Zeit. Alles wird einem verziehen. In Wirklichkeit ist Gefühlskälte missverstandene Ironie, ist Verdruss Liebe auf andere Art. Und auf unterschiedlichste Weise wird unserem komplizierten Wesen mehr Geduld entgegengebracht – in einer besseren Welt. 

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor. Ich frage nach. Ich lasse Meinungsumfragen erstellen und verhalte mich dem Ergebnis entsprechend. Wollen die Leute wirklich ein besseres Gesundheitssystem? Wollen die Leute wirklich mehr Freizeit? Wollen die Leute wirklich mehr vögeln und so, mehr Süßkram essen und so, länger im Fitnessstudio bleiben und so?

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor. Ich schließe die Augen, setze mich mit gespreizten Beinen auf mein Allerheiligstes und hetze unkontrolliert durch die Gegend, aufgefädelt auf einer meterlangen Schnur nicht hochgeladener, nicht geplanter Dick-Pics.

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Oder so hetze ich unkontrolliert durch die Gegend. Ich greife nach meinen Fußknöcheln, strecke mich zum Himmel und stelle mir eine bessere Welt vor. Als müsste man mit Niederschlag rechnen. Als könnte das passieren. Ich greife nach meinen Fußknöcheln, strecke mich zum Himmel und brülle die Wolken an. Ich versöhne mich mit meinem Allerheiligsten, nenne die Dinge beim Namen und twittere wie wild auf #Gamergate. Denn irgendwer muss es ja tun.

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor.

Ich beschließe es und warte.

Ich beschließe es, und ich warte. So stelle ich mir eine bessere Welt vor.

Ich beschließe es. Und dann warte ich.

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor. Betrunken ist alles funkelnd, strahlend, irgendwie sicherer und schöner in einem. Erregbarer. Du strauchelst und merkst es kaum. Fällst, und der Sturz verpasst dich. Die Welt steckt in einer Verpackung. Du bist gepolstert. Wir sind alle so unfassbar laminiert. Nur nicht aufhören, weiter besoffen zu sein.

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor. Sie stimmt ein Lied an. Ein Lied zum Mitsingen über die wahre Geschichte der unglaublichen achtzehnjährigen einbeinigen kriegsgeplagten afrikanischen Mutter der sechs ehemals brutalsten Kindersoldaten im Kongo, die später Diamantenschmuggler wurden, und darüber, wie ihr Traum, Velvet Revolver live auf dem Rücken eines zweihörnigen klitorisübersäten Einhorns zu sehen, durch die Magie crowdgefundeter Mikrokredite Wirklichkeit wurde. Und du wirst nie glauben, was als Nächstes geschah.

 

Oder so stelle ich mir eine bessere Welt vor. Du isst Grünkohl und erblühst. Isst Chia Samen, Bulgur und Acai Beeren und erblühst. Du futterst und du fightest und du florierst. Du hast immer transzendentale Meditation. Du hast immer Psychopharmaka. Du hast immer kognitive Verhaltenstherapie. Auf unterschiedlichste Weise wirst du das, was du konsumierst. Du wirst das, was du trainierst. Dein Körpergewicht in Hantelscheiben. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass du von dem lebst, was du dir in den Mund steckst. 

 

Das ist noch nicht mal eine Übertreibung dessen, wie ich mir eine bessere Welt vorstelle. Wenn überhaupt, dann relativiere ich es, wie ich mir eine bessere Welt vorstelle. Das ist gerade mal ein Bruchteil dessen, wie ich mir eine bessere Welt vorstelle.

 

Und so weiter und so weiter.  

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Aus dem Isländischen von Tina Flecken

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Bremer, Alida/Krüger, Michael: Glückliche Wirkungen © 2017 Propyläen Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

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